DIE WAHRHEIT
sonntags und an anderen tagen
vielleicht messer, vielleicht kalaschnikows
hatten sie dabei
die nachbarn, allernächste, lügen
sagen, sie hätten nichts gehört, nichts gesehen
sein eigener bruder und dessen frau
schweigen bis zum tod, unnachgiebig.
plötzlich fällt jemandem ein, im jahre siebenundfünfzig
hat großvater im bergwerk
einen mann geschubst
angeblich fiel dieser hin
und starb
vielleicht kamen einundneunzig
die kinder dieses mannes und sagten:
zum glück ist jetzt krieg –
wir können jeden töten, der uns etwas böses angetan hat
er muss kein kroate und kein serbe und auch nicht der schuldige sein
alles ist lotterie
die sünden der vorfahren bestraft man bis zur dritten generation
erst haben wir angefangen, erst wärmen wir uns auf
wer kann was dafür, dass jetzt nicht krieg ist
und du zum psychologen musst
statt einfach zu töten
wen du willst
das passende narrativ
erfindest du dann nachträglich
schliefen sie
und dachten, es sei ein traum
als die mörder kamen
ich habe von ihm zweimal geträumt,
wie er kommt
richtet die pistole auf mich
und sagt:
los! lass mal hören wie du bettelst
ich versuche, aber es geht nicht – ich kann nicht betteln
ich schließe nur die augen und warte
das geht ihm so auf die nerven,
dass er mich schließlich nicht tötet
nächstes mal kommt er und sagt:
jetzt bist du wirklich erledigt
ich kauere mich auf dem boden zusammen
er zögert wieder
diesmal bin ich genervt
ich sage zu ihm
worauf wartest du? töte mich endlich, du verdammter hurensohn!
beide male bin ich in der nähe von etwas
was alltäglich und sicher
sein sollte
IST ABER NICHT
wenn sie nicht schliefen, ging der ermordung wohl
ein gespräch voraus
vielleicht auch ein diebstahl
aber was soll man machen
keiner hat etwas gehört, keiner hat etwas gesehen
das heißt – es ist nicht passiert
vater schweigt und schweigt
so lange bis jedes haar auf seinem kopf weiß wird
alle gehen davon aus, jetzt ist es vorbei
er werde, nunmehr so weißhaarig und weise, endlich sprechen
aber er schweigt weiterhin
in seinen augen
manchmal donner, manchmal defibrilator
er meißelt in die marmortafel:
für meine mutter und den geliebten vater
ich frage warum ist der vater geliebt, und die mutter nicht
er schweigt
überträgt auf mich ein rätsel,
dessen entzifferung meine lebensaufgabe
im jahr achtundsechzig bricht er sich den arm
der mir bis heute weh tut.
die andere großmutter hat der schlag getroffen
schon zuvor war sie wie eine skulptur
kalt und altklug seit jeher
der halbe kopf funktioniert, der halbe nicht,
eine hälfte statue, die andere rebellion
nie hat sie mich irgendwas gefragt
weder wer ich bin
noch woher ich komme
noch wohin ich gehe
nichts hat sie mich gefragt
und auch heute, wenn menschen mich nichts fragen
wenn sie mich nur so da sitzen lassen, als wäre ich gar nicht da
lugt sie aus ihrem grab hervor und sagt
jetzt weißt du, wie es mir gegangen ist
ich übertrage kälte auf die kinder
bis in die dritte generation
ihr mann, mein anderer großvater,
hager und knotig wie eine gerte, sagte
was kann ein ast mit einem stein anfangen
– nichts.
als er krank wurde
spielte meine mutter mit ihren drei schwestern
schere
stein
papier
welche holt ihn zu sich
schere
stein
papier
die brüder ganz bestimmt nicht
schere
stein
papier
wer wird zuschauen
schere
stein
papier
beim sterben
schere
stein
papier
mutter wird
vielleicht spielten sie auch bim bam bom
wir spielten in der schule immer bim bam bom
zum glück gab es zumindest drei kinder
„sie sind vierte in der warteschlange“
vor mir zum auslachen.
wenn ich dann an der reihe war
waren sie schon müde
und außerdem war ich irgendwie merkwürdig,
es war nicht ganz klar
was genau es bei mir zum auslachen gab
manche sagten, er habe das verdient
aber leise, ganz leise
für sich
dass solche, die ihre kinder schlagen, nackt ausziehen, peitschen und ins dorf schicken
dass solche nichts anderes verdient haben als eine kugel in die stirn
das sagten sie
leise, ganz leise
für sich
dass alle seine söhne nackt auf dem mais knien mussten
und zwar in zwei staaten
und keiner von den beiden hat sie zur brust genommen
staaten lassen sich immer die brüste entfernen
sie sagen
sorry, wir müssen das tun, um keinen krebs zu bekommen, damit ihr uns nicht aussaugt, damit sie nicht runterhängen
ich habe noch immer schmerzen in den knien
obwohl ich nur dann niederknie, wenn ich liegestützen mache
und auch das erfolglos
er schweigt, mutter ärgert sich
sie versteht nicht, schweigen ist eine kunst
man schweigt in etappen –
wenn er aufhört
macht ein anderer weiter
mir scheint immer mehr,
die nächste bin ___
großmutter sagte zur zypresse
er ist irre seit dem krieg
der krieg hat ihn irre gemacht
und jetzt, als der neue krieg kam,
schwor er
sich zu rächen
er wird nirgendwohingehen
für niemanden krieg führen
niemand wird ihn zwingen
er wird nicht flüchten
er wird sich nicht verstecken
er wird ruhig in seinem bett schlafen
so lange, bis sie eines nachts kommen
und wenn sie kommen,
wird er nicht mal zusammenzucken,
er wird nur die augen aufschlagen und zu ihnen sagen:
worauf wartet ihr? tötet mich endlich, ihr verdammten hurensöhne!
sie wird neben ihm liegen,
sanft und sediert,
die beine auf einem kopfkissen hochgelagert
wegen der venen.
und an der wand
das hochzeitsbild rührt sich nicht vom fleck,
die zeit wird ins bild hineinkriechen
und es wird ein fest geben
alle werden tanzen
die reiskörner werden überallhin fliegen
die halb aufgegessene torte
wird das messer fragen
wer hat die wahrheit aufgegessen? wer?
das messer wird so tun, als hätte es nichts gehört,
in der hand meines bruders wird es sich ins warme verkriechen,
hinein in jemandes gedärme,
mein bruder wird sagen
so leise
dass es keiner hört
ihr verdammten hurensöhne
und dorthin es hineinstecken
jemandem bei den gedärmen
die mein anderer großvater neunundachtzig verloren hat
krieg oder krebs
damals die einzigen optionen
er hat die zweite gewählt
oder sie ihn
das ewige dilemma
henne oder ei oder sperma
ich nahm das messer und schlitzte das kopfkissen auf
überall flogen die federn
während ich es
zum container trug,
fielen die verdammten federn heraus
im flur
im treppenhaus
vor dem wohnhaus
sie verrieten mich
flogen absichtlich heraus,
sie sagten,
nur verrückte schlitzen ein kopfkissen auf
sollen die nachbarn ruhig wissen
wer sich da infiltriert hat
in die wohneinheit
auf nummer 13
die nummer bedeutet nichts
lasst die nummer in ruhe
habt ihr mich gehört?
hörst du, was ich dir sage?
lass die nummer in ruhe!
rühr sie nicht an, verdammt!
wenn ich’s dir doch sage,
das ist die letzte warnung …
BAM
es war klar, dass unsere beziehung am ende war
der polizist hielt in seinem linierten notizblock alles fest
dass ich neben ihm stand, zornig auf die ganze welt, diesen schlaffen ast
der nicht in der lage war mich zu beschützen, und ich war zornig zornig, wie ein stein wartete darauf, dass jemand mich warf, ich sagte, verzeih, dass wir so lange auf deiner motorhaube saßen, aber jetzt lass uns gehen, und da schnappte er mit seiner hand mein kiefer und schob mich sehr konkret von sich, so wie man einen hund von sich wegschiebt
nicht eine frau
das jahr, in dem ich geboren wurde,
war das jahr des hundes
aber was habe ich davon
wenn ich mein leben lang umgeben bin
von affen, hähnen und schweinen
nichts edles
zu finden
sogar eine katze ist ein besserer freund
solange du ihr etwas geben kannst,
kommt sie immer wieder zurück, ganz sicher.
eine katze ist eine schlampe,
aber vorhersehbar.
ich würde ihnen allen vergeben, dann würde ich sie erschießen
sagte großmutter und kehrte in ihr grab zurück
der onkel schluckte eine rasierklinge
und starb einen monat später
im krankenhaus besuchte ich ihm nicht
erst beim begräbnis
einen tag vor dem begräbnis
verschwandest du
du verdammter hurensohn
die leute sagten zu mir: mein beileid
und ich war so glücklich,
den ganzen tag weinen zu dürfen,
ohne dass irgendjemand wüsste warum.
diese rasierklinge verfing sich später in meinem darm
der arzt gab mir drei papiersäckchen und sagte
wir müssen eine hämoccult-test durchführen
ich hatte angst und tat so,
als hätte er nichts gesagt
ich wartete –
weiß nicht genau worauf
aber mir schien immer, es ist gut,
zunächst ein bisschen zu warten
wenn du jemanden liebst, warten
wenn du jemanden hasst, warten
wenn ein kind geboren ist, warten
wenn ein kind stirbt, warten
meine zwei brüder
sagte papa, aber er sagte niemals,
dass er auch eine schwester hatte
niemals betete er vor den anderen für sie
dabei liebt er doch theatralische tischgebete an feiertagen
wo er dann alle toten und die heimat
in ein gebet packt
ihr gab er nie ein eigenes
ein gebet nur für sie
und für niemanden sonst
niemals gab er ihr das
verdammter hurensohn
die drei brüder bekamen einander
sie aber bekam drei monate
februar, märz, einen teil vom april
dann sagte sie, sie gehe weg,
und würde erst dann zurückkehren,
wenn alle endlich die wahrheit sagen
ich stehe an der tür, ich warte
ich stehe am fenster, ich warte
in der pose des baums, ich warte
auf dem linken fuß, ich warte
auf dem rechten fuß, ich warte
sie sagt, dein warten kannst du dir in den arsch schieben
wenn du seit vierundachtzig nicht die wahrheit sagst
aber wenn ich die wahrheit sage,
werden alle eine rasierklinge schlucken müssen
na und, sagt sie,
dann sollen sie sie halt vorher
in mayonnaise tunken
ich sitze am tisch, meine füße berühren nicht den boden
ich presse eine ganze tube aus, in einen großen suppenteller
ich nehme großmutters hausgemachtes brot
tunke es ins weiße fett
ich esse ich esse ich esse
am liebsten würde ich mit den händen zulangen
alles esse ich auf
her mit dem brot
geht’s alle scheißen
passt schon
großvater raucht und schaut die nachrichten
onkel trinkt und schaut die nachrichten
ich schlucke alle mayonnaise dieser welt
möge sie meine seele ölen
die rasierklinge rauswerfen
das ist das heilige ritual
weihung, star mayonnaise
alles soll weiß sein
wir spielen erwachsene
wir sind alle nackt und tun uns paarweise zusammen
geschlecht spielt keine rolle
jeder kann sowohl ehemann als auch ehefrau sein
erst wenn wir paarweise zusammen sind,
können wir uns ins bett legen und
dort in ruhe kuscheln
als ihre mutter sie verriet, veränderte großmutter
plötzlich ihre flüche
statt, jebem ti mater
fluchte sie von da an,
jebem ti mrtvu mater
obwohl ihre mutter noch immer am leben war
stieg sie aus ihrem grab auf und sagte
das hat nichts zu bedeuten, der mensch kann am leben sein
und dennoch tot –
gebt mir zumindest meinen fluch,
sagte sie, soviel seid ihr mir schuldig
ich würde ihnen allen vergeben, dann würde ich sie erschießen
vater wollte priester werden, er glaubte an die vergebung
so wie alle gläubigen
machte er alles falsch
noch bevor der hahn krähte
verleugnete er mich dreimal
jedes mal verzieh ich ihm,
danach erschoss ich ihn.
großmutter stieg jedes mal aus ihrem grab und sagte
du zielst schlecht, kleine, du zielst schlecht.
sie hatte ihn nie gemocht.
sie war am feld, als mutter vom balkon fiel
und sich fast den hals brach
später bestrafte sie sie, denn kein anderer fällt vom balkon
kein sohn
großvater nimmt den ledergürtel
und schlägt damit auf das fleisch
im dorf gibt es keinen psychiater und psychologen und somatischen therapeuten
und auch kein psychodrama
im dorf gibt es nur gürtel, und dann nimmst du dir etwas lebendes
kann auch ein tier sein, aber tiere sind teuer,
besser ein kind,
sein körper kehrt dorthin zurück, wo er zerbrochen wurde
und dort rächt er sich.
das ist wie ein staffellauf.
manche kinder sangen und tanzten, trugen den staffelstab.
andere weinten und wanden sich, trugen narben.
das ist so gut wie ein staffelstab.
vielleicht sogar besser.
staffelstäbe sind ohnehin was für feige fotzen.
dieses ganze tanzen und singen, ich scheiß drauf
sagt der bruder
das soll eine pride sein
ein haufen idioten
pass gut auf, wem du was erzählst
pass gut auf, mit wem du befreundet bist
die menschen sind scheiß
merk dir das
von den sieben kindern sprechen drei nicht miteinander
von den drei kindern sprechen zwei nicht miteinander
seitdem ich allein bin
ein ziehen im herzen
ich weine in der ordination, sage zu ihr
ich weiß nicht, was ich tun soll
sie sagt zu mir
schau dir die gefährlichen liebschaften an
wenn du nicht schon hast
studier ganz genau, was madame de merteuil macht
du bist doch an der akademie für theater, oder?
siehst du, wie passend das alles ist
du musst lernen, die maske handzuhaben
aber pass auf
vergiss nicht, sie abzunehmen
du wirst schon noch sehen, was passiert, wenn du sowas vergisst
schau dir den film an, dann sehen wir uns wieder,
ich bin am dienstag in zwei wochen frei
passt es dir um zwei?
im traum sehe ich einen hund
und eine axt
mit der jemand dem hund die ohren abschneiden will
am morgen stelle ich eine gleichung auf
wenn man alle variablen eingibt
was herauskommt ist eine zweistellige zahl
der menschen, die hinter meinem rücken reden,
wetzen keine messer
aber knirschen mit den zähnen
wenn ich sie frage, warum sie knirschen
sagen sie
du hast dich verhört
sagen sie
entweder das oder ein missverständnis
eins vom beiden
ich ärgere mich auf meine falte
warum hast du dich hier eingenistet
frag ich
geh woanders
sie sagt
hier links passt es mir gut
alle kaputten sind hier:
herz, schilddrüse, darm
hier hab ich meine clique, ich geh nirgendwohin
wenn wir dich stören,
dann verschwinde
vater sorgt sich um das geschlecht
noch bevor das zum hit-thema wird
er sagt: kein basketball für dich,
basketball ist für männer
mutter sagt
du hast schwere knochen
break dance? nie davon gehört
immer verrät sie die geheimnisse der anderer
sie sagt
weißt du, was ich erfahren hab
und dann besiegelt sie das gelübde
das sie selbst gebrochen hat
sie greift unerwartet an
du bist nie bereit
sie ist mitglied einer spezialeinheit
der ninja-kriegerin
ihre gesamte einheit tötet sie
dann weint sie deshalb
die tränen sind ihre tödlichste waffe
sie weint nicht um die getöteten
sondern weil sie vom töten müde ist
großmutter liegt im grab, sie sagt
siehst du, wie gut ich sie ausgebildet habe
das jüngste kind lernt alle lektionen
immer am besten
im hof, in seiner weißen unterhose kauert sich vater
auf dem boden zusammen
und weint
mutter und ich schauen ihn wie ein theaterstück
siebenundzwanzig jahre später, in meinem zimmer
kauere ich mich auf dem boden zusammen
und weine
parkett ist besser als beton
die tür ist immer zu
kassa auch
mutter bietet den polizisten kaffee an
diese warnen uns
wir dürfen nicht streiten
die polizisten sind ein treues publikum
sie besuchen sämtliche theaterstücke im viertel
sie kennen alle hauptdarsteller
insbesondere den bruder
er ist der beste
denn er spielt in mehreren stücken
ich habe immer eine nebenrolle
aber ab und zu bekomme auch ich ein bisschen
aufmerksamkeit
ich fliege gegen die wand
mein jochbein bricht
scheiß drauf, man sieht’s eh nicht
ein dummer innerer bruch
so wird nie ein star aus mir
im polizeirevier sitzen vater und ich
er fragt
bist du dir sicher
der bruder hat sich nur in seine rolle hineingesteigert
method acting
du weißt doch, er steigert sich oft hinein
das ist stärker als er
vielleicht ziehst du
die anzeige
zurück
du zielst schlecht, kleine, du zielst schlecht.
wiederholt großmutter aus dem grab
oma sitzt auf einem stein, die beine tun ihr weh
ich frage sie genau wieviele blumen
ich pflücken darf
mutter braucht immer einen verbündeten
denn wenn sie allein ist
löst sie sich in der luft auf
sie macht
puff
paff
piff
und verschwindet
deshalb braucht sie immer jemanden
auf den sie sich stützen kann
gibst du dich nicht her
wenn sie es braucht
übt sie rache:
in den hauptabendnachrichten
interpretiert sie dein privatleben
sie zerfetzt deine poster
verhängt hausarrest für zwanzig jahre
segnet dich mit bulimie
beißt alle deine nägel ab
und sagt
du wirst unglücklich bleiben, solange du dich widersetzt
mutter ist eine launische fee
sie spricht einen fluch aus, dann setzt sich auf den felsen
und weint
vater kommt vorbei
fragt, warum weinst du?
damit du mich besser hörst
der bruder kommt vorbei
fragt, warum weinst du?
damit du mich besser siehst
ich komme vorbei
frage, warum weinst du?
du wirst schon noch sehen
sagt sie
ich erkranke an infektiöser mononukleose
vaters tote schwester klopft an meinen inkubator
sie sagt – ich bin so froh, dich zu sehen
vielleicht können wir bald zusammenspielen
komm schon, stirb schneller
ungeduldig, sie schickt mir auch das gelbfieber
wie gefällt dir dein geschenk,
fragt sie
wenn du bald kommst,
verspreche ich dir, wird es viele geschenke geben
im inkubator gibt es keine zeit
drei kriege vergehen
und zwei pandemien
es stirbt weder das kind noch der kapitalismus
wir sind jetzt resistent
ihr werdet uns schon noch sehen
mutter setzt sich ins auto und landet im graben
beschuldigt den verbündeten
und wirft den führerschein aus dem fenster
vater fährt immer zu schnell
mutter murrt
beide überbieten sich in gleichgültigkeit
unentschieden bleibt es immer
das ist der familiensport
wir spielen ihn sonntags und an anderen tagen
als ich mit den rollschuhen hinfalle und mir den arm breche, schweige ich
und sage zu niemandem etwas
großmutter sagt, du bist so klug
der knochen wächst falsch zusammen
aber niemand bestraft mich dafür, großmutter ist stolz
wenn ich gewusst hätte, dass du dich so prächtig entwickelst,
sagt sie, hätte ich länger gelebt
ich hätte dir noch ein paar tricks beigebracht
so hast du nur hirnläsionen, ein diffus-dysrhythmisches EEG, ohnmachtsanfälle
lass sie doch raten
ob es epilepsie, hirnschlag oder etwas neurologisches sein wird
wenn du dich in die magnet-röhre reinlegst,
wirst du wissen, wie es mir in diesem grab geht
schon seit jahren
ständig ein getrommel
und keiner spielt für mich die goldberg variationen
opa sagt
der mensch muss
geduldig, ruhig und besonnen sein
so bekommt man am schnellsten krebs
geduldig, ruhig und besonnen
wir sind eine spezialeinheit von pazifisten und scheißerunterschluckern
wir sind langmütig
und freundlich,
wir eifern nicht,
treiben nicht mutwillen,
verhalten uns nicht ungehörig,
suchen nicht das unsere,
wir lassen uns nicht
erbittern,
wir rechnen das böse nicht zu,
wir freuen uns nicht über ungerechtigkeit,
freuen uns aber an der wahrheit,
wir ertragen alles, glauben alles,
wir hoffen alles,
dulden alles.
großmutter sagt, wunderbar hast du das aufgesagt,
komm, leg dich zu mir,
du wirst sehen, wie schön es hier ist, wie in der magnetröhre,
und wo ist dein darm, Mein Freund?
im dorf geprügelt: katzen, kühe, kinder
in der stadt: fußballfans, drei b gegen drei c,
stadtteil gegen stadttei
in mir: prügeln sich die zellen
kommen die einen und sagen zu den anderen
jetzt habt ihr den arsch offen
ich strecke meinen arm aus
sie stechen mit dem nadel,
sagen, Kalium ist unter dem normalwert
das ist nicht gut
wie stellst du dir das vor, leben ohne Kalium?
was soll der scheiß?
warum tust du deinem Kalium das an?
du musst dich mit deinem Kalium versöhnen
ihr müsst miteinander sprechen
frag ihn, warum es dir böse ist,
er sagt dir bestimmt alles, wenn du nur fragst
tu etwas, überrede ihn zurückzukehren,
entschuldige dich bei ihm
iss eine banane
vater sagt, behalten wir das niedergebrannte und zerstörte haus,
in dem sie ermordet wurden.
das ist das mindeste, was wir tun können.
bauen wir häuser und
legen wir rund herum gärten an,
aber lassen wir in der mitte die ruine stehen.
wir sind dagegen, wir wollen vergessen.
vater sagt
dann setzt doch eure hoffnungen in das vergessen,
so wie das vergessen seine hoffnungen in euch setzt.
das Vergessen ist ein narzisstischer idiot
der zu allen seinen ex-freundinnen weiterhin kontakt pflegt
sodass er nach bedarf wieder auftauchen kann
sodass sie gemeinsam in erinnerungen schwelgen können
noch einmal miteinander ficken, um der guten alten zeiten willen
das Vergessen weiß, man wird es entlarven,
deshalb pflegt er alle beziehungen
zu allen und immer,
und wenn mal die eine oder andere allmählich vergisst,
wie sie heißt und wo sie wohnt
lacht das Vergessen zufrieden und sagt,
die ist verrückt,
da ist nichts zu machen,
und geht weiter.
der großvater gerät in gefangenschaft
der bruder wandert ins gefängnis
sie treffen sich in der zelle
siebzig jahre breit
der bruder sagt zu ihm, wenn du mich schief anschaust
schlitz ich dich auf.
großvater sagt zu ihm, du ungezogener bengel,
zu meiner zeit
hat niemand so zu älteren gesprochen.
der bruder sagt zu ihm, was für eine zeit soll das gewesen sein,
etwa vor Christi?
im gefängnis schreibt der bruder gedichte
und liest bücher.
er schließt freundschaft mit großvater
sie gründen eine partei.
sie studieren die geschichte der kroaten und ihrer verfolgungen,
beide lassen sich Christus auf den rücken tätowieren.
sie bekommen ein geringeres strafausmaß
wegen guter führung.
sobald sie draußen sind,
werden sie paranoid –
wo auch immer sie gehen, sie bauen mauern auf
umwickeln sich mit stacheldraht,
sie wissen, sie sind nicht mehr sicher.
mutter kocht eine suppe, wärmt milch auf, passiert tomaten,
zwingt dich, hintereinander auszutrinken.
wenn du dich übergibst, bestraft sie dich wegen undankbarkeit.
sie sagt, was für freundinnen hast du da,
sie erzählen überall deine geheimnisse rum,
knirschen mit den zähnen hinter deinem rücken,
verspotten dich, während du blutest, wo hast du sie bloß gefunden.
unter dem bett, ruft großmutter und lacht
unter dem bett!
vater gräbt im garten
zuerst sät er narzissen und irisse,
dann alles andere.
besonders kümmert er sich um die erdbeeren
wir essen sie mit schlagsahne,
manchmal vor den prügeln, manchmal danach.
dort, wo wir leben, haben wir keine nachbarn,
die mit uns gemeinsam schweigen könnten,
die kein wort sagen würden
die immer höflich und wohlwollend sind
die mit vater darüber sprechen könnten,
wie süß seine erdbeeren seien
und wie ertragreich die ernte heuer.
wird mir der sechste zahn unten links gezogen,
blute ich drei tage lang
der zahnarzt glaubt mir nicht
wenn ich sage, ich habe schmerzen
und dass der zahn nicht mehr mir gehört,
nunmehr ihnen gehört.
sie haben keine zähne – wenn jemand isst, nimmt er meinen sechsten zahn
und kaut damit alles
mein linkes auge, das eine mit dem starken astigmatismus
und der hohen dioptrie
erweist ihnen auch gute dienste,
sie schauen abwechselnd:
das bild, das es ihnen auf die netzhaut projiziert –
richtig genug.
oma sagt, mein schatz, kuschel dich hier zu mir
beten wir gemeinsam unter der daunendecke
sie sagt immer das gleiche gebet auf
erst in meinem siebenunddreißigsten lebensjahr,
während ein mann in der wohnung unter mir sein kind verprügelt,
wird mir klar, dass dieses gebet überhaupt nicht wirkt,
und während das kind schreit,
brüllt der mann
warum?! warum tust du mir das an?
ich frage den großvater, warum er sich verliebt hat,
er sagt, sie war gehorsam
ich frage den opa, warum er sich verliebt hat,
er sagt, sie war ungehorsam
ich frage den vater, warum er sich verliebt hat,
er sagt, sie war gehorsam
ich frage ihn, warum er sich verliebt hat,
er sagt, du warst.
über die liebe schreiben am schönsten jene,
die keine ahnung davon haben
was es nicht gibt, schreiben die in worte ein
dann kitzeln sie dich damit am bauch
und du gluckst wie ein baby
geschmeidig wie ein edelmetall
in ihren lobgesängen huldigen sie dir
bestaunen deine schönheit, oh Athen, hörst du?
verpissen sollen sie sich mit ihrem scheiß –
das können sie Helena und den anderen tussis erzählen,
– nicht mir.
so zärtlich und fatal aber sind sie,
oh Athen, gib schon zu
sie reizen dich
du hattest schon immer eine schwäche für schlächter
das ist dein fetisch
du liebst es wenn sie ihre axt über deinen kopf schwingen
das erregt dich
gib’s zu
du kommst erst dann,
wenn das wertvollste was du hast in gefahr gerät,
gib’s endlich zu!
warum schweigst du?!
lasst sie doch schweigen!
ruft großmutter aus dem grab,
es ist ihr verfassungsmäßig garantiertes recht
ihre wahrheit zu schweigen
wäre es überhaupt möglich, die wahrheit auszusprechen,
wäre die welt ein gerechter ort
ABER ES GEHT NICHT
GEHT NICHT
wann werdet ihr es endlich begreifen
das ist das geheimnis
niemand kann sie aussprechen
ohne dass ein anderer sie in frage stellt
und dann wird sie identisch mit der lüge
das ist das ende der geschichte
sagt großmutter, angelehnt an den rand des grabes
magst du einen kaffee oder tee
frage ich sie
kaffee ist gut mein schatz,
mach mir einen schwarzen, den schwärzesten
zufällig werde ich ihn über deine finger schütten
damit du nie auf die idee kommst
irgendwas von dem hier
aufzuschreiben.
ENDE