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Die Wahrheit

Grcić Katja

 

 

 

 

 

 

DIE WAHRHEIT

sonntags und an anderen tagen

 

vielleicht messer, vielleicht kalaschnikows

hatten sie dabei

die nachbarn, allernächste, lügen

sagen, sie hätten nichts gehört, nichts gesehen

sein eigener bruder und dessen frau

schweigen bis zum tod, unnachgiebig.

 

plötzlich fällt jemandem ein, im jahre siebenundfünfzig

hat großvater im bergwerk

einen mann geschubst

angeblich fiel dieser hin

und starb

 

vielleicht kamen einundneunzig

die kinder dieses mannes und sagten:

zum glück ist jetzt krieg –

wir können jeden töten, der uns etwas böses angetan hat

er muss kein kroate und kein serbe und auch nicht der schuldige sein

alles ist lotterie

 

die sünden der vorfahren bestraft man bis zur dritten generation

erst haben wir angefangen, erst wärmen wir uns auf

wer kann was dafür, dass jetzt nicht krieg ist

und du zum psychologen musst

statt einfach zu töten

wen du willst

das passende narrativ

erfindest du dann nachträglich

 

 

schliefen sie

und dachten, es sei ein traum

als die mörder kamen

 

ich habe von ihm zweimal geträumt,

wie er kommt

richtet die pistole auf mich

und sagt:

los! lass mal hören wie du bettelst

ich versuche, aber es geht nicht – ich kann nicht betteln

ich schließe nur die augen und warte

das geht ihm so auf die nerven,

dass er mich schließlich nicht tötet

 

nächstes mal kommt er und sagt:

jetzt bist du wirklich erledigt

ich kauere mich auf dem boden zusammen

er zögert wieder

diesmal bin ich genervt

ich sage zu ihm

worauf wartest du? töte mich endlich, du verdammter hurensohn!

 

beide male bin ich in der nähe von etwas

was alltäglich und sicher

sein sollte

IST ABER NICHT

 

wenn sie nicht schliefen, ging der ermordung wohl

ein gespräch voraus

vielleicht auch ein diebstahl

aber was soll man machen

keiner hat etwas gehört, keiner hat etwas gesehen

das heißt – es ist nicht passiert

 

vater schweigt und schweigt

so lange bis jedes haar auf seinem kopf weiß wird

alle gehen davon aus, jetzt ist es vorbei

er werde, nunmehr so weißhaarig und weise, endlich sprechen

aber er schweigt weiterhin

in seinen augen

manchmal donner, manchmal defibrilator

 

er meißelt in die marmortafel:

für meine mutter und den geliebten vater

 

ich frage warum ist der vater geliebt, und die mutter nicht

er schweigt

überträgt auf mich ein rätsel,

dessen entzifferung meine lebensaufgabe

im jahr achtundsechzig bricht er sich den arm

der mir bis heute weh tut.

 

die andere großmutter hat der schlag getroffen

schon zuvor war sie wie eine skulptur

kalt und altklug seit jeher

der halbe kopf funktioniert, der halbe nicht,

eine hälfte statue, die andere rebellion

nie hat sie mich irgendwas gefragt

weder wer ich bin

noch woher ich komme

noch wohin ich gehe

nichts hat sie mich gefragt

und auch heute, wenn menschen mich nichts fragen

wenn sie mich nur so da sitzen lassen, als wäre ich gar nicht da

lugt sie aus ihrem grab hervor und sagt

jetzt weißt du, wie es mir gegangen ist

ich übertrage kälte auf die kinder

bis in die dritte generation

 

ihr mann, mein anderer großvater,

hager und knotig wie eine gerte, sagte

was kann ein ast mit einem stein anfangen

– nichts.

als er krank wurde

spielte meine mutter mit ihren drei schwestern

schere

stein

papier

welche holt ihn zu sich

schere

stein

papier

die brüder ganz bestimmt nicht

schere

stein

papier

wer wird zuschauen

schere

stein

papier

beim sterben

schere

stein

papier

mutter wird

 

vielleicht spielten sie auch bim bam bom

wir spielten in der schule immer bim bam bom

zum glück gab es zumindest drei kinder

„sie sind vierte in der warteschlange“

vor mir zum auslachen.

wenn ich dann an der reihe war

waren sie schon müde

und außerdem war ich irgendwie merkwürdig,

es war nicht ganz klar

was genau es bei mir zum auslachen gab

 

manche sagten, er habe das verdient

aber leise, ganz leise

für sich

dass solche, die ihre kinder schlagen, nackt ausziehen, peitschen und ins dorf schicken

dass solche nichts anderes verdient haben als eine kugel in die stirn

das sagten sie

leise, ganz leise

für sich

dass alle seine söhne nackt auf dem mais knien mussten

und zwar in zwei staaten

und keiner von den beiden hat sie zur brust genommen

staaten lassen sich immer die brüste entfernen

sie sagen

sorry, wir müssen das tun, um keinen krebs zu bekommen, damit ihr uns nicht aussaugt, damit sie nicht runterhängen

 

ich habe noch immer schmerzen in den knien

obwohl ich nur dann niederknie, wenn ich liegestützen mache

und auch das erfolglos

 

er schweigt, mutter ärgert sich

sie versteht nicht, schweigen ist eine kunst

man schweigt in etappen –

wenn er aufhört

macht ein anderer weiter

 

mir scheint immer mehr,

die nächste bin ___

 

großmutter sagte zur zypresse

er ist irre seit dem krieg

der krieg hat ihn irre gemacht

und jetzt, als der neue krieg kam,

schwor er

sich zu rächen

er wird nirgendwohingehen

für niemanden krieg führen

niemand wird ihn zwingen

er wird nicht flüchten

er wird sich nicht verstecken

er wird ruhig in seinem bett schlafen

so lange, bis sie eines nachts kommen

und wenn sie kommen,

wird er nicht mal zusammenzucken,

er wird nur die augen aufschlagen und zu ihnen sagen:

worauf wartet ihr? tötet mich endlich, ihr verdammten hurensöhne!

 

sie wird neben ihm liegen,

sanft und sediert,

die beine auf einem kopfkissen hochgelagert

wegen der venen.

und an der wand

das hochzeitsbild rührt sich nicht vom fleck,

die zeit wird ins bild hineinkriechen

und es wird ein fest geben

alle werden tanzen

die reiskörner werden überallhin fliegen

die halb aufgegessene torte

wird das messer fragen

wer hat die wahrheit aufgegessen? wer?

das messer wird so tun, als hätte es nichts gehört,

in der hand meines bruders wird es sich ins warme verkriechen,

hinein in jemandes gedärme,

mein bruder wird sagen

so leise

dass es keiner hört

ihr verdammten hurensöhne

und dorthin es hineinstecken

jemandem bei den gedärmen

 

die mein anderer großvater neunundachtzig verloren hat

krieg oder krebs

damals die einzigen optionen

er hat die zweite gewählt

oder sie ihn

das ewige dilemma

henne oder ei oder sperma

 

 

ich nahm das messer und schlitzte das kopfkissen auf

überall flogen die federn

während ich es

zum container trug,

fielen die verdammten federn heraus

im flur

im treppenhaus

vor dem wohnhaus

sie verrieten mich

flogen absichtlich heraus,

sie sagten,

nur verrückte schlitzen ein kopfkissen auf

sollen die nachbarn ruhig wissen

wer sich da infiltriert hat

in die wohneinheit

auf nummer 13

 

die nummer bedeutet nichts

lasst die nummer in ruhe

habt ihr mich gehört?

hörst du, was ich dir sage?

lass die nummer in ruhe!

rühr sie nicht an, verdammt!

wenn ich’s dir doch sage,

das ist die letzte warnung …

 

BAM

 

 

es war klar, dass unsere beziehung am ende war

der polizist hielt in seinem linierten notizblock alles fest

dass ich neben ihm stand, zornig auf die ganze welt, diesen schlaffen ast

der nicht in der lage war mich zu beschützen, und ich war zornig zornig, wie ein stein wartete darauf, dass jemand mich warf, ich sagte, verzeih, dass wir so lange auf deiner motorhaube saßen, aber jetzt lass uns gehen, und da schnappte er mit seiner hand mein kiefer und schob mich sehr konkret von sich, so wie man einen hund von sich wegschiebt

nicht eine frau

 

das jahr, in dem ich geboren wurde,

war das jahr des hundes

aber was habe ich davon

wenn ich mein leben lang umgeben bin

von affen, hähnen und schweinen

nichts edles

zu finden

sogar eine katze ist ein besserer freund

solange du ihr etwas geben kannst,

kommt sie immer wieder zurück, ganz sicher.

eine katze ist eine schlampe,

aber vorhersehbar.

 

ich würde ihnen allen vergeben, dann würde ich sie erschießen

sagte großmutter und kehrte in ihr grab zurück

 

 

der onkel schluckte eine rasierklinge

und starb einen monat später

im krankenhaus besuchte ich ihm nicht

erst beim begräbnis

einen tag vor dem begräbnis

verschwandest du

du verdammter hurensohn

die leute sagten zu mir: mein beileid

und ich war so glücklich,

den ganzen tag weinen zu dürfen,

ohne dass irgendjemand wüsste warum.

 

diese rasierklinge verfing sich später in meinem darm

der arzt gab mir drei papiersäckchen und sagte

wir müssen eine hämoccult-test durchführen

 

ich hatte angst und tat so,

als hätte er nichts gesagt

ich wartete –

weiß nicht genau worauf

aber mir schien immer, es ist gut,

zunächst ein bisschen zu warten

 

wenn du jemanden liebst, warten

wenn du jemanden hasst, warten

wenn ein kind geboren ist, warten

wenn ein kind stirbt, warten

 

meine zwei brüder

sagte papa, aber er sagte niemals,

dass er auch eine schwester hatte

niemals betete er vor den anderen für sie

dabei liebt er doch theatralische tischgebete an feiertagen

wo er dann alle toten und die heimat

in ein gebet packt

ihr gab er nie ein eigenes

ein gebet nur für sie

und für niemanden sonst

niemals gab er ihr das

verdammter hurensohn

 

die drei brüder bekamen einander

sie aber bekam drei monate

februar, märz, einen teil vom april

dann sagte sie, sie gehe weg,

und würde erst dann zurückkehren,

wenn alle endlich die wahrheit sagen

 

ich stehe an der tür, ich warte

ich stehe am fenster, ich warte

in der pose des baums, ich warte

auf dem linken fuß, ich warte

auf dem rechten fuß, ich warte

sie sagt, dein warten kannst du dir in den arsch schieben

wenn du seit vierundachtzig nicht die wahrheit sagst

 

aber wenn ich die wahrheit sage,

werden alle eine rasierklinge schlucken müssen

na und, sagt sie,

dann sollen sie sie halt vorher

in mayonnaise tunken

 

 

ich sitze am tisch, meine füße berühren nicht den boden

ich presse eine ganze tube aus, in einen großen suppenteller

ich nehme großmutters hausgemachtes brot

tunke es ins weiße fett

ich esse ich esse ich esse

am liebsten würde ich mit den händen zulangen

alles esse ich auf

her mit dem brot

geht’s alle scheißen

passt schon

 

großvater raucht und schaut die nachrichten

onkel trinkt und schaut die nachrichten

ich schlucke alle mayonnaise dieser welt

möge sie meine seele ölen

die rasierklinge rauswerfen

das ist das heilige ritual

weihung, star mayonnaise

alles soll weiß sein

 

wir spielen erwachsene

wir sind alle nackt und tun uns paarweise zusammen

geschlecht spielt keine rolle

jeder kann sowohl ehemann als auch ehefrau sein

erst wenn wir paarweise zusammen sind,

können wir uns ins bett legen und

dort in ruhe kuscheln

 

als ihre mutter sie verriet, veränderte großmutter

plötzlich ihre flüche

statt, jebem ti mater

fluchte sie von da an,

jebem ti mrtvu mater

obwohl ihre mutter noch immer am leben war

stieg sie aus ihrem grab auf und sagte

das hat nichts zu bedeuten, der mensch kann am leben sein

und dennoch tot –

gebt mir zumindest meinen fluch,

sagte sie, soviel seid ihr mir schuldig

 

ich würde ihnen allen vergeben, dann würde ich sie erschießen

 

vater wollte priester werden, er glaubte an die vergebung

so wie alle gläubigen

machte er alles falsch

noch bevor der hahn krähte

verleugnete er mich dreimal

 

jedes mal verzieh ich ihm,

danach erschoss ich ihn.

großmutter stieg jedes mal aus ihrem grab und sagte

du zielst schlecht, kleine, du zielst schlecht.

sie hatte ihn nie gemocht.

 

sie war am feld, als mutter vom balkon fiel

und sich fast den hals brach

später bestrafte sie sie, denn kein anderer fällt vom balkon

kein sohn

 

 

 

großvater nimmt den ledergürtel

und schlägt damit auf das fleisch

im dorf gibt es keinen psychiater und psychologen und somatischen therapeuten

und auch kein psychodrama

im dorf gibt es nur gürtel, und dann nimmst du dir etwas lebendes

kann auch ein tier sein, aber tiere sind teuer,

besser ein kind,

sein körper kehrt dorthin zurück, wo er zerbrochen wurde

und dort rächt er sich.

das ist wie ein staffellauf.

manche kinder sangen und tanzten, trugen den staffelstab.

andere weinten und wanden sich, trugen narben.

das ist so gut wie ein staffelstab.

vielleicht sogar besser.

staffelstäbe sind ohnehin was für feige fotzen.

dieses ganze tanzen und singen, ich scheiß drauf

sagt der bruder

das soll eine pride sein

ein haufen idioten

 

pass gut auf, wem du was erzählst

pass gut auf, mit wem du befreundet bist

die menschen sind scheiß

merk dir das

 

von den sieben kindern sprechen drei nicht miteinander

von den drei kindern sprechen zwei nicht miteinander

seitdem ich allein bin

ein ziehen im herzen

 

ich weine in der ordination, sage zu ihr

ich weiß nicht, was ich tun soll

sie sagt zu mir

schau dir die gefährlichen liebschaften an

wenn du nicht schon hast

studier ganz genau, was madame de merteuil macht

du bist doch an der akademie für theater, oder?

siehst du, wie passend das alles ist

 

du musst lernen, die maske handzuhaben

aber pass auf

vergiss nicht, sie abzunehmen

du wirst schon noch sehen, was passiert, wenn du sowas vergisst

schau dir den film an, dann sehen wir uns wieder,

ich bin am dienstag in zwei wochen frei

passt es dir um zwei?

 

im traum sehe ich einen hund

und eine axt

mit der jemand dem hund die ohren abschneiden will

am morgen stelle ich eine gleichung auf

wenn man alle variablen eingibt

was herauskommt ist eine zweistellige zahl

der menschen, die hinter meinem rücken reden,

wetzen keine messer

aber knirschen mit den zähnen

wenn ich sie frage, warum sie knirschen

sagen sie

du hast dich verhört

sagen sie

 

entweder das oder ein missverständnis

eins vom beiden

 

 

 

 

ich ärgere mich auf meine falte

warum hast du dich hier eingenistet

frag ich

geh woanders

sie sagt

hier links passt es mir gut

alle kaputten sind hier:

herz, schilddrüse, darm

hier hab ich meine clique, ich geh nirgendwohin

wenn wir dich stören,

dann verschwinde

 

vater sorgt sich um das geschlecht

noch bevor das zum hit-thema wird

er sagt: kein basketball für dich,

basketball ist für männer

mutter sagt

du hast schwere knochen

break dance? nie davon gehört

 

immer verrät sie die geheimnisse der anderer

sie sagt

weißt du, was ich erfahren hab

und dann besiegelt sie das gelübde

das sie selbst gebrochen hat

 

sie greift unerwartet an

du bist nie bereit

sie ist mitglied einer spezialeinheit

der ninja-kriegerin

ihre gesamte einheit tötet sie

dann weint sie deshalb

die tränen sind ihre tödlichste waffe

sie weint nicht um die getöteten

sondern weil sie vom töten müde ist

 

großmutter liegt im grab, sie sagt

siehst du, wie gut ich sie ausgebildet habe

das jüngste kind lernt alle lektionen

immer am besten

 

im hof, in seiner weißen unterhose kauert sich vater

auf dem boden zusammen

und weint

mutter und ich schauen ihn wie ein theaterstück

 

siebenundzwanzig jahre später, in meinem zimmer

kauere ich mich auf dem boden zusammen

und weine

parkett ist besser als beton

die tür ist immer zu

kassa auch

 

mutter bietet den polizisten kaffee an

diese warnen uns

wir dürfen nicht streiten

die polizisten sind ein treues publikum

sie besuchen sämtliche theaterstücke im viertel

sie kennen alle hauptdarsteller

insbesondere den bruder

er ist der beste

denn er spielt in mehreren stücken

 

ich habe immer eine nebenrolle

aber ab und zu bekomme auch ich ein bisschen

aufmerksamkeit

ich fliege gegen die wand

mein jochbein bricht

scheiß drauf, man sieht’s eh nicht

ein dummer innerer bruch

so wird nie ein star aus mir

 

im polizeirevier sitzen vater und ich

er fragt

bist du dir sicher

der bruder hat sich nur in seine rolle hineingesteigert

method acting

du weißt doch, er steigert sich oft hinein

das ist stärker als er

vielleicht ziehst du

die anzeige

zurück

 

du zielst schlecht, kleine, du zielst schlecht.

wiederholt großmutter aus dem grab

 

 

 

oma sitzt auf einem stein, die beine tun ihr weh

ich frage sie genau wieviele blumen

ich pflücken darf

 

 

 

mutter braucht immer einen verbündeten

denn wenn sie allein ist

löst sie sich in der luft auf

sie macht

puff

paff

piff

und verschwindet

 

deshalb braucht sie immer jemanden

auf den sie sich stützen kann

gibst du dich nicht her

wenn sie es braucht

übt sie rache:

 

in den hauptabendnachrichten

interpretiert sie dein privatleben

sie zerfetzt deine poster

verhängt hausarrest für zwanzig jahre

segnet dich mit bulimie

beißt alle deine nägel ab

und sagt

du wirst unglücklich bleiben, solange du dich widersetzt

mutter ist eine launische fee

sie spricht einen fluch aus, dann setzt sich auf den felsen

und weint

vater kommt vorbei

fragt, warum weinst du?

damit du mich besser hörst

der bruder kommt vorbei

fragt, warum weinst du?

damit du mich besser siehst

ich komme vorbei

frage, warum weinst du?

du wirst schon noch sehen

sagt sie

 

ich erkranke an infektiöser mononukleose

vaters tote schwester klopft an meinen inkubator

sie sagt – ich bin so froh, dich zu sehen

vielleicht können wir bald zusammenspielen

komm schon, stirb schneller

 

ungeduldig, sie schickt mir auch das gelbfieber

wie gefällt dir dein geschenk,

fragt sie

wenn du bald kommst,

verspreche ich dir, wird es viele geschenke geben

 

im inkubator gibt es keine zeit

drei kriege vergehen

und zwei pandemien

es stirbt weder das kind noch der kapitalismus

wir sind jetzt resistent

ihr werdet uns schon noch sehen

 

mutter setzt sich ins auto und landet im graben

beschuldigt den verbündeten

und wirft den führerschein aus dem fenster

 

vater fährt immer zu schnell

mutter murrt

beide überbieten sich in gleichgültigkeit

unentschieden bleibt es immer

das ist der familiensport

wir spielen ihn sonntags und an anderen tagen

 

 

als ich mit den rollschuhen hinfalle und mir den arm breche, schweige ich

und sage zu niemandem etwas

großmutter sagt, du bist so klug

der knochen wächst falsch zusammen

aber niemand bestraft mich dafür, großmutter ist stolz

wenn ich gewusst hätte, dass du dich so prächtig entwickelst,

sagt sie, hätte ich länger gelebt

ich hätte dir noch ein paar tricks beigebracht

so hast du nur hirnläsionen, ein diffus-dysrhythmisches EEG, ohnmachtsanfälle

lass sie doch raten

ob es epilepsie, hirnschlag oder etwas neurologisches sein wird

wenn du dich in die magnet-röhre reinlegst,

wirst du wissen, wie es mir in diesem grab geht

schon seit jahren

ständig ein getrommel

und keiner spielt für mich die goldberg variationen

 

opa sagt

der mensch muss

geduldig, ruhig und besonnen sein

so bekommt man am schnellsten krebs

geduldig, ruhig und besonnen

wir sind eine spezialeinheit von pazifisten und scheißerunterschluckern

wir sind langmütig

und freundlich,

wir eifern nicht,

treiben nicht mutwillen,

verhalten uns nicht ungehörig,

suchen nicht das unsere,

wir lassen uns nicht

erbittern,

wir rechnen das böse nicht zu,

wir freuen uns nicht über ungerechtigkeit,

freuen uns aber an der wahrheit,

wir ertragen alles, glauben alles,

wir hoffen alles,

dulden alles.

 

großmutter sagt, wunderbar hast du das aufgesagt,

komm, leg dich zu mir,

du wirst sehen, wie schön es hier ist, wie in der magnetröhre,

und wo ist dein darm, Mein Freund?

 

 

im dorf geprügelt: katzen, kühe, kinder

in der stadt: fußballfans, drei b gegen drei c,

stadtteil gegen stadttei

in mir: prügeln sich die zellen

 

kommen die einen und sagen zu den anderen

jetzt habt ihr den arsch offen

ich strecke meinen arm aus

sie stechen mit dem nadel,

sagen, Kalium ist unter dem normalwert

das ist nicht gut

wie stellst du dir das vor, leben ohne Kalium?

was soll der scheiß?

warum tust du deinem Kalium das an?

du musst dich mit deinem Kalium versöhnen

ihr müsst miteinander sprechen

frag ihn, warum es dir böse ist,

er sagt dir bestimmt alles, wenn du nur fragst

tu etwas, überrede ihn zurückzukehren,

entschuldige dich bei ihm

iss eine banane

 

 

vater sagt, behalten wir das niedergebrannte und zerstörte haus,

in dem sie ermordet wurden.

das ist das mindeste, was wir tun können.

bauen wir häuser und

legen wir rund herum gärten an,

aber lassen wir in der mitte die ruine stehen.

 

wir sind dagegen, wir wollen vergessen.

vater sagt

dann setzt doch eure hoffnungen in das vergessen,

so wie das vergessen seine hoffnungen in euch setzt.

 

das Vergessen ist ein narzisstischer idiot

der zu allen seinen ex-freundinnen weiterhin kontakt pflegt

sodass er nach bedarf wieder auftauchen kann

sodass sie gemeinsam in erinnerungen schwelgen können

noch einmal miteinander ficken, um der guten alten zeiten willen

das Vergessen weiß, man wird es entlarven,

deshalb pflegt er alle beziehungen

zu allen und immer,

und wenn mal die eine oder andere allmählich vergisst,

wie sie heißt und wo sie wohnt

lacht das Vergessen zufrieden und sagt,

die ist verrückt,

da ist nichts zu machen,

und geht weiter.

 

 

 

der großvater gerät in gefangenschaft

der bruder wandert ins gefängnis

sie treffen sich in der zelle

siebzig jahre breit

der bruder sagt zu ihm, wenn du mich schief anschaust

schlitz ich dich auf.

großvater sagt zu ihm, du ungezogener bengel,

zu meiner zeit

hat niemand so zu älteren gesprochen.

der bruder sagt zu ihm, was für eine zeit soll das gewesen sein,

etwa vor Christi?

 

im gefängnis schreibt der bruder gedichte

und liest bücher.

er schließt freundschaft mit großvater

sie gründen eine partei.

sie studieren die geschichte der kroaten und ihrer verfolgungen,

beide lassen sich Christus auf den rücken tätowieren.

sie bekommen ein geringeres strafausmaß

wegen guter führung.

 

sobald sie draußen sind,

werden sie paranoid –

wo auch immer sie gehen, sie bauen mauern auf

umwickeln sich mit stacheldraht,

sie wissen, sie sind nicht mehr sicher.

 

mutter kocht eine suppe, wärmt milch auf, passiert tomaten,

zwingt dich, hintereinander auszutrinken.

wenn du dich übergibst, bestraft sie dich wegen undankbarkeit.

 

sie sagt, was für freundinnen hast du da,

sie erzählen überall deine geheimnisse rum,

knirschen mit den zähnen hinter deinem rücken,

verspotten dich, während du blutest, wo hast du sie bloß gefunden.

 

unter dem bett, ruft großmutter und lacht

unter dem bett!

 

vater gräbt im garten

zuerst sät er narzissen und irisse,

dann alles andere.

besonders kümmert er sich um die erdbeeren

wir essen sie mit schlagsahne,

manchmal vor den prügeln, manchmal danach.

 

dort, wo wir leben, haben wir keine nachbarn,

die mit uns gemeinsam schweigen könnten,

die kein wort sagen würden

die immer höflich und wohlwollend sind

die mit vater darüber sprechen könnten,

wie süß seine erdbeeren seien

und wie ertragreich die ernte heuer.

 

 

 

wird mir der sechste zahn unten links gezogen,

blute ich drei tage lang

der zahnarzt glaubt mir nicht

wenn ich sage, ich habe schmerzen

und dass der zahn nicht mehr mir gehört,

nunmehr ihnen gehört.

sie haben keine zähne – wenn jemand isst, nimmt er meinen sechsten zahn

und kaut damit alles

mein linkes auge, das eine mit dem starken astigmatismus

und der hohen dioptrie

erweist ihnen auch gute dienste,

sie schauen abwechselnd:

das bild, das es ihnen auf die netzhaut projiziert –

richtig genug.

 

 

oma sagt, mein schatz, kuschel dich hier zu mir

beten wir gemeinsam unter der daunendecke

sie sagt immer das gleiche gebet auf

erst in meinem siebenunddreißigsten lebensjahr,

während ein mann in der wohnung unter mir sein kind verprügelt,

wird mir klar, dass dieses gebet überhaupt nicht wirkt,

und während das kind schreit,

brüllt der mann

warum?! warum tust du mir das an?

 

ich frage den großvater, warum er sich verliebt hat,

er sagt, sie war gehorsam

ich frage den opa, warum er sich verliebt hat,

er sagt, sie war ungehorsam

ich frage den vater, warum er sich verliebt hat,

er sagt, sie war gehorsam

ich frage ihn, warum er sich verliebt hat,

er sagt, du warst.

über die liebe schreiben am schönsten jene,

die keine ahnung davon haben

was es nicht gibt, schreiben die in worte ein

dann kitzeln sie dich damit am bauch

und du gluckst wie ein baby

geschmeidig wie ein edelmetall

in ihren lobgesängen huldigen sie dir

bestaunen deine schönheit, oh Athen, hörst du?

verpissen sollen sie sich mit ihrem scheiß –

das können sie Helena und den anderen tussis erzählen,

– nicht mir.

so zärtlich und fatal aber sind sie,

oh Athen, gib schon zu

sie reizen dich

du hattest schon immer eine schwäche für schlächter

das ist dein fetisch

du liebst es wenn sie ihre axt über deinen kopf schwingen

das erregt dich

gib’s zu

du kommst erst dann,

wenn das wertvollste was du hast in gefahr gerät,

gib’s endlich zu!

warum schweigst du?!

 

lasst sie doch schweigen!

ruft großmutter aus dem grab,

es ist ihr verfassungsmäßig garantiertes recht

ihre wahrheit zu schweigen

wäre es überhaupt möglich, die wahrheit auszusprechen,

wäre die welt ein gerechter ort

ABER ES GEHT NICHT

GEHT NICHT

wann werdet ihr es endlich begreifen

das ist das geheimnis

niemand kann sie aussprechen

ohne dass ein anderer sie in frage stellt

und dann wird sie identisch mit der lüge

das ist das ende der geschichte

sagt großmutter, angelehnt an den rand des grabes

 

magst du einen kaffee oder tee

frage ich sie

kaffee ist gut mein schatz,

mach mir einen schwarzen, den schwärzesten

zufällig werde ich ihn über deine finger schütten

damit du nie auf die idee kommst

irgendwas von dem hier

aufzuschreiben.

 

ENDE