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Lichtungen 171 Titel Var 2CS5

Ubuntu

Rechsteiner Christian

In the villa of Ormen

stands a solitary candle

at the centre of it all

David Bowie

 

Barber lag auf der Rückbank und stöhnte. Ich verstellte den Rückspiegel so, dass ich ihn sehen konnte. Er hatte sich auf die Seite gedreht, seine Beine angewinkelt, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Die Augen waren geschlossen, sein Gesicht blass und verschwitzt. Er zitterte.

„Wir sind gleich da“, sagte ich und wartete in den Rückspiegel schauend auf eine Reaktion, außer einem kaum hörbaren Winseln kam aber nichts.

Er schlotterte, obwohl es vierzig Grad im Schatten war. Die Klimaanlage war schon lange ausgestiegen. Nur der Fahrtwind sorgte für etwas Abkühlung. Die Straßen hier draußen sind eine Zumutung. In der Regel ist es unmöglich, schneller als in Schritttempo zu fahren. Wir kamen kaum voran. Vor dem Überqueren der Flüsse stieg ich aus dem Wagen, stapfte bis zur Mitte, immer auf der Hut vor Krokodilen und Flusspferden, und überprüfte die Wassertiefe. Wenigstens hielten sie uns an den Checkpoints nicht lange auf.

Barbers Zustand hatte sich stündlich verschlechtert. Am Morgen noch klagte er lediglich über etwas Kopf- und Gliederschmerzen. Aber das war nichts Neues. Wir alle hatten uns an die kleinen Unannehmlichkeiten gewöhnt: Fieber, Durchfall, Übelkeit. Das war an der Tagesordnung. Alle von uns waren mehr oder weniger krank. Als sich Barber schlecht fühlte, dachten wir uns nichts dabei. Er selbst am wenigsten. Er trank eine halbe Flasche Whisky zum Frühstück und damit war die Sache für ihn erledigt. Wir machten uns an die Arbeit. Bis Mittag musste er sich vier Mal übergeben und konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Nach dem Essen wollte er sich für einen Augenblick hinlegen. Als ich nach ihm schaute, war er bereits im Delirium. Seine Augen waren stark gerötet. In sein Erbrochenes war Blut beigemengt. Er hatte hohes Fieber.

„Wir müssen dich hier rausschaffen“, sagte ich zu ihm, „du musst ins Krankenhaus.“

Ich fragte also den Franzosen, ob ich mir sein Auto, einen alten Golf Kombi, ausborgen konnte. Wenn wir ihn nicht so schnell wie möglich in ein Krankenhaus in der Hauptstadt brachten, war er so gut wie tot. Der Franzose zögerte. Er gab sein Auto nur ungern her. Ich wurde laut und sagte ihm, dass er schuld sei, wenn Barber hier draußen im Busch draufgehen würde. Schließlich gab er nach. Bevor wir losfuhren, sagte er noch: „Pis, tu vois qu’il va pas crever dans la bagnole.“

Die Hauptstadt war etwa acht Autofahrstunden entfernt. Wenn alles glatt lief, konnten wir noch vor Mitternacht da sein.

Die Dämmerung war kurz. Um 18.00 Uhr herrschte bereits tiefe Nacht. Die Lichtkegel der Scheinwerfer waren das einzige Licht weit und breit. Barber wimmerte leise auf der Rückbank. Ab und zu hielt ich an, beugte mich nach hinten und gab ihm schluckweise Wasser. Das Meiste lief ihm über das Gesicht. Er fieberte, übergab sich in den Eimer, den ich ihm hingestellt hatte, und war kaum ansprechbar.

 

Als ich Barber damals vom Flughafen abholen sollte, zwei Tage zu spät, weil der Franzose vergessen hatte, wann der Neue genau kommt, fand ich ihn nach einigen Stunden in einer kleinen Pension namens «Au Cœur des Ténèbres» nahe dem Flughafen. Er saß gut gelaunt auf der Veranda, es war vielleicht vier Uhr, kaute Khat und trank Bier. Er erkannte mich auf der Stelle.

„Wird man hier nicht mal mit einem Kutter empfangen?“, sagte er als erstes, grinste und als ich nicht verstand, winkte er ab und reichte mir die Hand.

Ich fragte ihn, ob er das erste Mal auf dem Kontinent sei und er sagte: „Nein, fühlt sich aber immer noch so an.“

Dann erzählte ich ihm die Legende vom Schweinehirten, wie ich es immer bei den Neuen machte, und alle sagten hinterher immer, und zwar ausnahmslos, ja, genau so ist Afrika, was natürlich absoluter Schwachsinn ist, woher sollten sies auch wissen, aber irgendwie stimmt es doch auch. Dieselben Leute sagten dann meistens auch, Afrika, das ist wie nach Hause kommen. Jedenfalls erzählte ich Barber die Legende. Sie geht in etwa so: Ein Schweinehirt im Hochland muss ein Schwein ins Nachbardorf bringen. Die Reise dauert einen Tag und ist sehr beschwerlich und gefährlich. Der Schweinehirte geht alleine mit dem Schwein, aber für das Schwein ist der lange Weg zu anstrengend und es stirbt in der Mitte. Der Schweinehirte muss nun entscheiden, ob er ohne das Schwein ins Nachbardorf geht und dem Dorfkönig mitteilt, dass das Schwein tot ist oder ob er umkehrt, ein zweites Schwein holt und es erneut versucht. Er entscheidet sich für Letzteres, aber in der Mitte des Weges stirbt auch das zweite Schwein. Und wieder entscheidet sich der Schweinhirte dazu, umzukehren und ein drittes Schwein zu holen, aber auch das dritte Schwein stirbt und so weiter und so fort. Das ist die Legende vom Schweinehirten, aber Barber kannte sie schon und sagte nur: „Wollen wir?“

 

Gegen Mitternacht erreichten wir die Hauptstadt. Als erstes sah ich die Lichter, dann passierten wir einige Blechhütten, die Straßen wurden besser, Leute tummelten sich am Straßenrand und absurderweise kamen mir alte norddeutsche Busse entgegen. Man konnte das Meer riechen. Ich erkundigte mich nach einem Krankenhaus.

Das St. Simoniste liegt im Süden der Stadt. Ich stellte den Wagen vor dem Eingang ab, hob Barber von der Rückbank, er war leichter, als ich gedacht hatte, und rannte zum Empfang. Beim Betreten des Krankenhauses schlug mir ein Geruch aus Blut, Schweiß und Urin entgegen. Der Flur war vollgestopft mit Betten, die Deckenbeleuchtung flackerte, vereinzelt surrten die Ventilatoren, aber die meisten waren kaputt. Barber atmete flach, schlug ab und an die blutunterlaufenen Augen auf, sackte wieder weg. Ich setzte mich auf den Boden und hielt ihn in meinen Armen. Es dauerte, bis endlich ein Arzt erschien. Er sah ihn sich flüchtig an und ließ eine Liege kommen. Da alle Zimmer belegt waren, wurde er auf dem Krankenhausflur einquartiert. Ich setzte mich neben ihn auf einen Plastikstuhl und hielt seine Hand. Nach der ersten Behandlung schien es ihm etwas besser zu gehen. Er zitterte aber immer noch.

 

Es war etwa ein Jahr her, dass Barber zu uns gestoßen war. Er war sofort bei allen beliebt, besonders bei den Frauen, alle wollten mit ihm schlafen. Nur einer mochte ihn nicht: der Franzose. Barber zeigte keinen Respekt, stellte Abläufe in Frage, kritisierte ihn, machte ihn vor allen lächerlich. Ich fragte mich, wieso er hier war, Barber. Er passte nicht hierher. Er war nicht so wie wir anderen.

Ich erfuhr, dass er schon länger in Afrika war. Er war schon überall gewesen, in Tansania, in Südafrika, im Nildelta, in Namibia und natürlich in Djibouti, wo er offenbar mit dem Botschafter über einen Salzsee gesegelt war. Barber war ein Nomade, nirgendwo hielt es ihn länger als ein paar Monate, dann zog er weiter.

Ich selbst war auch fasziniert von Barber. Er brachte Schwung ins Camp. Bei ihm sah alles so leicht aus, so federleicht, als ob es ihn keinerlei Anstrengung kostete. Aber ich wurde von Anfang an das Gefühl nicht los, dass er eine Schuld zu begleichen hatte. Das war nur eine Vermutung, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er etwas zu verheimlichen hatte.

Wir hatten wenig Kontakt mit den Einheimischen, der Franzose nannte sie les autochtones. Wir stellten unser Camp auf, begannen mit dem Brunnenbau, ließen uns von den Kindern über die Schultern schauen, bis der Brunnen fertig war, und am Ende gab es eine große Einweihungsfeier. Alle Stämme aus der Umgebung reisten an, die Könige dicht behangen mit Fetischen, die Frauen kaum bekleidet und stark geschminkt. Wir nahmen den Brunnen in Betrieb, es gab ein paar seltsame Reden, wir stießen darauf an, dann wurde die ganze Nacht getrunken und zu den Trommeln getanzt und manchmal wollte der König dem Franzosen die schönste Frau des Dorfes schenken. Am nächsten Morgen bauten wir das Camp ab und machten uns auf den Weg zum nächsten Dorf.

Wir stellten einen Brunnen nach dem anderen hin. So machten wir das, Brunnen um Brunnen. Für die Einheimischen war es jedes Mal ein Ereignis, für uns nur ein weiterer Brunnen mitten im Grasland. Wenn wir manchmal rein zufällig an einem Brunnen vorbeikamen, den wir vor ein paar Monaten gebaut hatten, war er in der Regel zerlegt worden und seine Einzelteile lagen im ganzen Dorf zerstreut.

Oft hatte der Franzose Dashikis geschenkt bekommen. Am liebsten trug er die purpur- und lavendelfarbenen, dazu die Jesussandalen. In Frankreich war er Architekt gewesen, Architekt für Tankstellen, und damit hatte er gutes Geld verdient, bis er irgendwann genug davon hatte, den ganzen Tag im Auto zu sitzen, eine Baustelle nach der anderen abklappernd, und eines Tages über Nacht entschied, sein Leben zu ändern. Afrika, also. Zuerst war der Plan mit dem Motorrad den ganzen Kontinent zu durchqueren, ein Kindheitstraum, aber irgendwann blieb er wie die meisten hängen und dann kam das mit den Brunnen. Brunnen und Kühlschränke. Er baute Brunnen und sammelte kaputte Kühlschränke, die er wieder auf Vordermann brachte. Die Einheimischen, les autochthones, nannten ihn entweder L’homme qui a apporté l’eau oder le récycliste.

Einmal, ich glaube, das war in der Nähe von Saayé, hatte er nebenbei ein Radio repariert und das ganze Dorf stand um den Apparat, als der Franzose einen Sender suchte, und dann kam, und ich schwöre, dass das die Wahrheit ist, dann kam «Afrique Adieu» von Sardou und der Franzose grinste über das ganze Gesicht, als ob das alles so von ihm arrangiert gewesen wäre. Am Ende sangen alle lauthals mit und tanzten. Barber aber stand daneben, an einen Pfosten gelehnt mit einem Hirsebier in der Hand, und schüttelte den Kopf.

Ich erinnere mich daran, wie ich mit dem Franzosen, das war noch ganz am Anfang, lange bevor Barber kam, am Abend beim Feuer saß, wir waren schon ein bisschen betrunken, und er ins Erzählen kam. Er sagte, dass er fließend Wolof, Swahili und Mandinka spreche, ein wenig Bantu und natürlich Französisch und Englisch, allerdings habe ich ihn nie etwas anderes als Französisch sprechen gehört.

Man wusste nie, woran man war. Der Franzose konnte der netteste Mensch sein, kleine Scherze machen, für gute Stimmung sorgen, aber dann schrie er plötzlich im nächsten Augenblick: „Des nulles! J’suis entouré d’imbéciles! Que des cons!“ Und damit es dann auch wirklich alle verstanden, schob er ein Dutzend fuckers nach, allerdings sehr französisch ausgesprochen, was dann wie feu quais klang. Und das konnte dann eine Weile so weiter gehen, ohne dass man wusste, wen oder was er genau damit meinte.

Als Barber zu uns stieß, wurden seine Wutausbrüche seltener. Schwer zu sagen, inwiefern diese Änderung im Verhalten mit Barber zu tun hatte, ob er tatsächlich Respekt vor ihm hatte, vor seinem handwerklichen Geschick vielleicht, auf jeden Fall wurden die Aussetzer seltener.

Deshalb war es einerseits erstaunlich, andererseits aber auch wieder nicht, dass der Franzose ihn dabeihaben wollte,

als ein Sender etwas über das Brunnenprojekt machen wollte, offenbar schätzte er ihn telegener ein als sich selbst. Barber wollte aber nicht und am Ende stand ich in diesem Fernsehstudio, erklärte kurz unsere Arbeit und das war es dann auch schon.

Als wir dann einmal ein paar Tage frei hatten, das war noch vor Weihnachten, wollte Barber unbedingt eine kleine Reise nach Timbuktu machen und außerdem wollte er, dass ich ihn begleite.

„Warum willst du mich dabeihaben?“
„Die Frage ist doch eher, warum Timbuktu?“

„Ok, warum Timbuktu?“

„Warum nicht?“

Selbstverständlich wusste auch Barber, dass wir niemals nach Timbuktu gelangen würden, nicht in diesem Leben, aber wir spielten dieses Spiel. Wir fuhren also los. Der Franzose hatte uns seinen Kombi nicht ausleihen wollen und so hatte Barber irgendwo einen verlotterten Jeep aufgetan. Wir fuhren los und verbrachten die erste Zeit vor allem damit, über den Franzosen zu fluchen, dann machten wir uns über ihn lustig, bis wir uns am Ende nur noch krümmten vor Lachen.

Wir sangen lauthals den Refrain von «Afrique Adieu» und bei Où vont les eaux bleues sang Barber immer les yeux bleus und wir amüsierten uns köstlich. Barber schlug grob die Richtung nach Timbuktu ein, also im Prinzip nordwärts, und wir fuhren drei, vier Stunden am Stück, legten einen kurzen Halt ein, aßen vielleicht ein mafé, kauften Wasser und Saft und fuhren weiter. Irgendwann überquerten wir einen Fluss, vielleicht war es der Niger, schwer zu sagen, ich schlief die meiste Zeit und Barber regelte alles. Ich meine nur, irgendwo das Wort «Tombouctou» gelesen zu haben, ich kann mich allerdings auch irren.

Dann fuhr ich eine Weile und Barber schlief auf der Rückbank. Wir kamen immer wieder einmal an Straßenschildern vorbei, auf denen stand, soundsoviel Tage bis nach Timbuktu, das war aber völlig unübersichtlich. Das erste Schild, das ich sah, sagte 32 Tage, daran erinnere ich mich noch, aber das konnte dann auch gut sein, dass am nächsten Tag ein Schild auftauchte, auf dem stand, noch 40 Tage bis nach Timbuktu. Außerdem blieb völlig im Unklaren, auf welches Fortbewegungsmittel sich die Reisedauer bezog.

Plötzlich wuchsen an den Straßenrändern Kapokbäume und Akazien, die Sonne stand schwer am Horizont und wenn man Glück hatte, sah man die eine oder andere Antilope. Oder eine Hyäne. Ab und zu wehten Rauchschwaden von Barber herüber, wenn er wach geworden war, und mir wurde schlecht.

Für ein, zwei Tage nahmen wir einen Jungen mit. Er hieß Mahmoud und reiste hunderte von Kilometern alleine nach Hause. Er lehnte sich während der ganzen Fahrt zu uns nach vorne, die Arme auf unsere Kopfstützen gelegt, und grinste die meiste Zeit.

„Je suis le roi“, sagte er, „et vous êtes mes chevaliers.“

Dann fragte er uns, woher wir kämen und ob da alle so aussähen wie wir.

„Aus welcher Provinz?“, fragte er. „Nein, wartet, keine Provinz, lasst mich raten … Swaziland?“

Wir ließen ihn noch eine Weile raten und einigten uns schließlich auf Südafrika.

„Wusste ichs doch“, sagte er und grinste über beide Ohren.

Dann fasste er uns in die Haare, staunte über unsere blauen Augen und wiederholte immer wieder, dass er der König sei. Barber und ich mussten lachen.

Dann war er plötzlich am Ziel, wollte uns seine Familie vorstellen und zum Essen einladen, aber auf einmal war er im Getümmel verschwunden und wir fuhren weiter.

Am Straßenrand standen immer wieder einmal alte Autowracks, völlig verrostet und ausgeweidet, die aussahen wie Büffelskelette. Manchmal sahen wir kräftige Frauen, die etwas auf ihrem Kopf trugen, vielleicht ein paar Säcke Reis oder Mais, und uns seltsame Handbewegungen machten, als ob wir auf der falschen Fährte wären.

Wir wechselten uns ab am Steuer, ich fuhr ein, zwei Stunden, dann Barber, ich war mir nicht mehr so sicher, ob wir Timbuktu jemals erreichen würden. Dann kamen wir irgendwann darauf zu sprechen, was wir vor Afrika gemacht hatten. Ich erzählte ihm, dass ich in meinem Zivildienst als Pfleger gearbeitet hatte. Was Barber gewesen war, wurde bis zum Schluss nicht klar. Vielleicht Ingenieur oder Lehrer oder etwas Ähnliches.

Wir kamen durch Dörfer, die aus nicht viel mehr als ein paar Lehmhütten bestanden, wurden manchmal von fliegenden Händlern bedrängt, die zum Beispiel ein Bund Esslöffel um den Hals trugen, einmal hängte sich ein Kind an die hintere Stoßstange, daran erinnere ich mich, und dann vor allem an Sand, ab einem gewissen Punkt fast nur noch Sand und vielleicht ein paar Sträucher und natürlich die Checkpoints. Immer wieder wurde uns von den Söldnern mit ihren Kalaschnikows die Temperatur gemessen und dann immer auch die Frage: „Américains?“, was wir inzwischen routiniert verneinten.

Nach ein paar Tagen meinte ich zu Barber, wenn sich Timbuktu nicht bald einmal blicken lässt, sollten wir vielleicht lieber umkehren und bevor ich mich versah, beschloss Barber beim nächsten Kaff, dass es sich dabei um Timbuktu handle. Ich schaute ihn kurz an, dann verstand ich.

Wir blieben zwei Tage und zwei Nächte und taten so, als wären wir in Timbuktu. Wir benahmen uns so, als ob dieses kleine Wüstenkaff, ich kann mich nicht einmal mehr an den Namen erinnern, das große Timbuktu wäre und Barber sagte dann beispielsweise bei einer kleinen Dorfkapelle aus Lehm: „Ah, das ist jetzt also die berühmte Moschee“ und bei einem Buchladen, der ein paar zerfledderte Bücher auf der Straße stehen hatte, sagte er: „Schau doch, die berühmte Bibliothek“ und bei einem klapprigen Holzgerüst, das irgendwo sinnlos herumstand, sagte er: „Ah, voilà, die flamme de la paix“. So ging das den ganzen Tag. Barber schien intensiver zu leben. Obschon er ständig Khat kaute, war er, wenn er denn wach war, hellwach und ständig auf der Suche nach etwas.

Am ersten Abend gingen wir dann essen und als ich von der Toilette zurückkam, saß ein Mann in einem blauen Umhang und Tagelmust an meinem Platz, neben ihm ein schwarzer Junge, der zu ihm zu gehören schien, und der Mann redete wild gestikulierend auf Barber ein. Ich verstand nur, wie er immer wieder „Anatole, Anatole“ sagte. Als er mich sah, erhob er sich sofort und ging. Der schwarze Junge folgte ihm. Barber bestellte noch einmal zwei Mongozo.

„Was wollte der?“, fragte ich.

„Der Nazi? Der wollte mir den Jungen verkaufen.“

„Was wollte der?“

„Die nennen sie helper, aber im Prinzip sind das ihre Sklaven.“

„Und den wollte er dir verkaufen?“
Barber nickte.

„Und du hast abgelehnt?“
„Nein.“
„Was, nein?“
„Nein, ich hätte ihn schon gekauft, aber der Junge wollte nicht.“

Wir tranken Mongozo, bis mir schlecht wurde, und dann legten wir uns in den Jeep. Barber schlief unruhig und am Morgen waren die Scheiben beschlagen. Es war angenehm kühl.

Es war nicht viel los in unserem Timbuktu, außer dass wir natürlich überall Aufsehen erregten. Ich schrieb ein paar Postkarten, kaufte Marken, gab sie einem Händler, aber machte mir keine großen Hoffnungen. Barber döste im Schatten in einem geflochtenen Lehnstuhl, während ich den Krähen zusah, die am Himmel kreisten. Am Nachmittag tranken wir Tee und die dritte Tasse war tatsächlich bitter wie der Tod.

„Wir könnten hier bleiben“, sagte Barber am Abend und daran erinnere ich mich noch gut, „kein Mensch würde uns finden.“

Natürlich war es schon spät und wir waren betrunken, aber ich glaube, Barber spielte tatsächlich mit dem Gedanken.

Als wir dann wieder zurück waren, spielten wir das Spiel weiter, ohne es je abgesprochen zu haben, und ließen alle im Glauben, dass wir tatsächlich in Timbuktu gewesen waren.

 

Ich lag im Halbschlaf, die Bilder, die Erinnerungen, wachte immer vom Stöhnen und Wimmern auf. Die Nacht im Krankenhaus war lang.

„Glaubst du an den Tod?“, sagte Barber plötzlich, die Augen geschlossen, als sei er bei klarem Verstand.

„Ob ich an den Tod glaube?“

„Ja.“
„Komische Frage, Barber.“
„Wenn du nicht an ihn glaubst, gibt es ihn nicht.“

Das Licht an der Decke flackerte. Barber sah blass aus. Seine Wangen waren nun eingefallen. Ein metallischer Geruch ging von ihm aus. Wenn er redete, öffnete sich sein Mund kaum.

„So wie Timbuktu?“, sagte ich.
„Ganz genau.“

„Du fieberst, Barber.“

„Ja, ich fiebere.“

Er stöhnte, verzerrte das Gesicht, ich reichte ihm Wasser, aber er wollte nicht.

„Ich habe mich immer gefragt“, sagte er schließlich kaum hörbar und wahnsinnig langsam, „woher die ganzen Schweine kommen.“

„Welche Schweine?“
„Die Schweine in der Legende.“

„Ja, keine Ahnung, ist ja nur eine dumme Geschichte.“

Sein Gesicht entspannte sich.

„Vielleicht ist das ja Afrika.“

Barber musste lachen, es war ein absurdes, tonloses Lachen, dann bekam er einen fürchterlichen Hustenanfall. Er leckte seine Lippen und ein heftiger Schüttelfrost durchfuhr ihn. Er stöhnte und verzog sein Gesicht.

„Soll ich den Arzt rufen?“

Er schüttelte sich. Als er seine Augen öffnete, sah ich, dass sie rot vom Blut waren. Er gab keine Antwort. Ich stand auf und legte meine Hand auf seinen Oberarm. Er glühte. Ich nahm seinen Kopf in meine Hände.

„Du wirst mir hier nicht krepieren, Barber. Hast du mich verstanden?“

Er krümmte sich und spuckte Blut.

Ich rannte den Flur hinunter auf der Suche nach einem Arzt. Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich jemanden gefunden hatte, der mir helfen konnte. Als ich mit dem Arzt zurückkam, war Barber verschwunden.

Ich irrte durch das Krankenhaus, fragte Pflegerinnen, Ärzte, ich fragte am Empfang. Keiner wusste, wo Barber war. Ich begann die Zimmer einzeln nach ihm abzuklappern, aber wie zum Teufel will man so jemanden finden?

Schließlich entschied ich, etwas essen zu gehen. Die Sonne war bereits aufgegangen. Ich verpflegte mich bei einem der Street Cars vor dem Krankenhaus mit einer kansiyé, rauchte eine und ging dann wieder zurück, bereit, erst zu gehen, wenn ich Barber gefunden hatte, aber ich wurde bereits am Empfang erwartet. Der Arzt aus der Nacht sagte, wie ich fand etwas vorwurfsvoll: „Wir haben Sie gesucht. Wo waren Sie?“

Sie hatten Barber auf ein Krankenzimmer gebracht. Als wir das Zimmer betraten, das er mit sieben anderen Patienten teilte, einige davon in Handschellen an ihr Bett gefesselt, war er schon nicht mehr bei Bewusstsein. Es wurde heiß und plötzlich sehr stickig. Der Arzt sah sich Barber an und schüttelte den Kopf.

„Votre ami est maintenant entre les mains de Dieu.“

Der Arzt fasste mir an den Oberarm, nickte kurz und verließ dann das Zimmer. Ich setzte mich neben Barber. Ein unangenehmer Geruch strömte von ihm aus. Eine Mischung aus Blut, Urin und Talg. Die anderen Patienten im Zimmer stöhnten und dösten vor sich hin. Sie alle hatten rote Augen. Ich konnte nichts für Barber tun. Am späten Nachmittag flüsterte ich ihm zu, dass ich etwas Kleines essen und mich dann kurz hinlegen wollte. Ich dachte, ich hätte ein beinahe unsichtbares Nicken gesehen.

Ich setzte mich in den Golf und fuhr, weiß der Geier warum, zur Pension, wo ich Barber abgeholt hatte. Ich hatte Mühe, sie überhaupt zu finden. Ich setzte mich auf die Veranda, bestellte ein Bier, erkundigte mich nach Khat, aß etwas Kleines. Ich erinnerte mich daran, wie ich in meiner ersten Woche auf dem Kontinent in Kabou etwas aß und ein wildfremder Mann sich neben mich setzte und fragte, ob ich ihm etwas von meinem Reis anbiete. Ich war verblüfft und fragte ihn, ob das so üblich sei. Der Fremde nickte, aber als ich ihm den Teller hinüberschob, schlug er aus und lachte solange lauthals, bis auch ich lachen musste.

Ich unterhielt mich noch eine Weile mit der Inhaberin und sonderbarerweise erinnerte sie sich an Barber, obschon es bald ein Jahr her war, dass ich ihn abgeholt hatte. Dann wurde ich plötzlich sehr müde und fragte nach einem Zimmer.

Als ich im Morgengrauen erwachte und sofort zurück ins Krankenhaus fuhr, fand ich Barbers Bett leer. Ich fragte bei der Stationsschwester nach. Sie teilte mir nach einer Weile mit, dass er in der Nacht gestorben sei. Ich wollte ihn sehen, aber sie erklärte mir, dass das nicht möglich sei, da ich nicht zur Familie gehöre. Ich sagte, ich würde nicht von der Stelle weichen, bevor ich ihn nicht gesehen hätte, und verlangte den Arzt. Sie schüttelte nur den Kopf, ohne mich anzusehen. Ich ließ nichts unversucht, behauptete, Barber sei mein Lebensgefährte, aber die Schwester ließ mich warten. Ich blieb eine Weile am Empfang stehen, dann setzte ich mich in das Wartezimmer.

Am Abend kam der Arzt endlich und ich konnte ihn dazu überreden, mich zu ihm zu lassen.

Die Toten waren im Untergeschoss. Der Arzt lief einen halben Meter vor mir in die Morgue. Die Leichen lagen aufgebahrt da. Er hob eines der Leichentücher, zuerst das falsche, dann noch eins und noch eins und dann sah ich Barbers Gesicht. Es war blass, aber friedlich. Ich dankte dem Arzt und ging.

Ich rief den Franzosen an und erzählte ihm, was geschehen war. Er wollte mir nicht glauben und sagte nur: „T’es fou?“

„Immerhin“, sagte ich, „immerhin ist er nicht in deiner Karre verreckt.“

Dann sagte er, ich solle auf der Stelle ins Camp zurückkehren. Ich wartete einen Augenblick, als ob ich nachdenken müsste, teilte ihm dann mit, dass ich seinen Wagen vor dem Krankenhaus stehen lassen würde und hängte auf.